Satire, die das Reisen von alleinerziehenden Eltern in seinen Schattenseiten beschreibt.

Mutterschutz


Neulich bin ich mit meiner Oma Zug gefahren. Eigentlich ist es gar nicht meine Oma, aber letztlich macht das ja auch keinen Unterschied und wenigstens muss ich sie nicht mehr aufwendig erziehen.

An einem Viererplatz sitzt eine Mutter mit Kind, diversen Einkaufstaschen von Modehäusern und einer leeren 5kg-Trommel mit Bauklötzen. Die Bauklötze liegen in einem großen Haufen auf dem Tisch zwischen ihnen, wo das Kind gerade einen uninspirierten Versuch macht, einen Turm zu bauen, der eher an den 11. September erinnert.

„Entschuldigen Sie, könnten Sie wohl die beiden Sitzplätze am Gang freimachen?“, frage ich.
„Ja, bestimmt sechs Tüten habe ich gekauft.“, sagt die Frau in ihr Handy.
„Könnten Sie diese Tüten wohl oben ins Gepäcknetz stellen, damit hier noch zwei Plätze frei werden?“
„Ach, der hat Bauklötze gekriegt.“
Die Frau versucht, meinen Einwand durch die Fortführung ihres Handy-Telefonats weg zu ignorieren, was ich ihr aber nicht durchgehen lasse.

„Haben Sie nicht gesehen, dass ich gerade telefoniert habe?“, fragt sie ärgerlich.
„Sogar gehört. Es sind übrigens sieben Tüten und da ich glücklicherweise keinen Koffer dabei habe, passen sie sogar alle oben in das Gepäcknetz.“
„Und da sollen die Kleider dann Falten kriegen, oder wie stellen sie sich das vor?“
„Ehrlich gesagt kenne ich mich bei Kleidern nicht so aus.“
„Hier können Sie auf jeden Fall nicht sitzen.“
„Deshalb bitte ich Sie ja auch, die Tüten wegzuräumen, die auf unseren Plätzen liegen.“
„Ihre Plätze?“
„Genau, denn die beiden Plätze am Gang habe ich reserviert.“

Die Frau steht ungnädig auf, um einen Blick auf die Reservierungsanzeige zu werfen. Erstaunlicherweise funktioniert diese tatsächlich und weist die Plätze am Gang als reserviert aus. „Das ist jetzt aber ungünstig.“, sagt sie, „ich hatte so viel Mühe, einen Platz mit Tisch zu finden.“
„Kann ich verstehen.“, sage ich verständnisvoll, „Deswegen habe ich ja auch reserviert.“
„Ich weiß doch gar nicht, wohin mit meinen Taschen.“
„Das sehe ich.“
„Können Sie sich nicht vielleicht woanders hinsetzen?“
„Anstelle ihrer vielen Tüten?“
„Ja?“
„Nein.“

Widerwillig räumt sie ihr Gepäck in die Ablagefächer, sodass Oma und ich endlich Platz nehmen können: „Und sind sie jetzt zufrieden?“
„Nein.“, sage ich.
„Was denn noch?“
„Der Tisch.“
„Was ist damit?“
„Er liegt voller Bauklötze.“
„Sie haben wohl keine Kinder?“
„Stimmt. Und auch keine Bauklötze.“
„Wissen Sie eigentlich, wie anstrengend es ist, mit Kindern zu verreisen?“
„Ziemlich.“, bestätige ich.
„Sie können sich doch gar nicht vorstellen, was man da als Mutter durchmacht.“
„Ist vermutlich noch schlimmer, als das, was man als Fahrgast ertragen muss. Aber ich fürchte, bei einem Kind gibt es noch keinen Orden.“
„Sie wollen also wirklich, dass ich Ihre Hälfte des Tisches jetzt freiräume?“
„Ich bitte darum.“

Wütend schiebt die Frau die Bauklötze auf ihre Seite herüber, was dem Wolkenkratzer auf der Fensterseite endgültig den Rest gibt. Das Kind fängt prompt an zu weinen.
„Sehen sie nur, was Sie jetzt angerichtet haben.“
Die Frau holt einen Rekorder aus einer Tasche und lässt ihn Kinderlieder abspielen. Er schafft nur unzureichend, das Kind zu übertönen, das trotzdem weiter weint. Die Frau muss ganz schön schreien, damit sie bei diesem Lärm wieder weiter telefonieren kann.

„Könnten Sie vielleicht mit Ihrem Kind, dem Rekorder und Ihrem Handy woanders hingehen?“
„Kommt gar nicht in Frage. Warum sollte ich das tun?“
„Sie sind zu laut.“
„Das ist eben etwas lauter, wenn man ein Kind dabei hat.“
„Dann sollten sie sich aber nicht ausgerechnet in den Ruhebereich setzen.“
„Was für ein Bereich?“
„Ruhebereich.“ Ich zeige auf das Symbol mit dem durchgestrichenen Handy und daneben dem Gesicht, das „Pssst“ macht.

„Diese Schilder haben doch keine Bedeutung.“, sagt die Frau verächtlich, „Auf der Toilette hängt schließlich auch ein Schild, wo steht 'Bitte hinterlassen Sie diesen Raum so, wie sie ihn vorfinden möchten.'. Da putzt man auch nicht hinterher die ganze Toilette.“
„Achso.“, sage ich erleichert, „Wenn das so ist, dann kann ich hier ja auch eine Zigarette rauchen.“
„Das ist doch etwas völlig anderes, der Rauch bleibt schließlich nicht bei Ihnen. Da qualmen Sie ja gleich den ganzen Zug voll.“
„Schall und Rauch. Verbreiten sich beide ganz gut.“
„Aber so ein bisschen Unruhe ist doch ganz normal und stört doch keinen.“

„Ich habe eine lange Fahrt vor mir und muss dringend etwas arbeiten. Darum habe ich einen Platz mit Tisch im Ruhebereich reserviert.“
„Aber sie können doch auch mal Rücksicht auf andere nehmen.“
„Bin ich ihnen denn zu laut?“
„Sie sind anscheinend der einzige, der sich gestört fühlt.“
„Vielleicht bin ich auch nur der einzige, der es Ihnen sagt.“
„Die alte Dame, die mit Ihnen fährt, fühlt sich doch offensichtlich auch nicht gestört.“
„Lassen Sie meine Oma aus dem Spiel.“
„Weil Sie dann merken, dass Sie im Unrecht sind, nicht wahr?“
„Es war nur ein guter Ratschlag.“

„Sie haben doch nichts dagegen, wenn es einen Tick lauter ist?“ fragt die Frau meine Oma.
„Für mich ist das kein Problem.“, beruhigt Oma, „Wissen Sie, früher bei den Indianern, hat man Kindern, die auf Reisen geweint haben, einfach den Schädel eingeschlagen, damit sie nicht den ganzen Stamm verraten. Zum Glück hängt ja gleich da drüben ein Nothammer, aber wenn Sie wollen, könnte ich Ihr Kind auch einfach vergiften.“

Plötzlich scheinen die Taschen kein unüberwindliches Hindernis mehr zu sein und in kürzester Zeit ergreift die Frau samt Kind und Gepäck die Flucht.
„Irgendwie solltest Du vielleicht mein nächstes Buch schreiben.“, sage ich zu Oma, „Du kannst die Dinge immer viel besser ausdrücken als ich.“
„Dranbleiben.“, ermuntert mich Oma und steht auf:
  „Komm Junge, dahinten hat sich doch tatsächlich ein junger Kerl auf den Behindertenplatz gesetzt.“



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