Ein Einkauf bei IKEA ist nicht für jeden ein schönes Erlebnis.

Wohnst Du noch oder lebst Du schon?


Draußen in der Vorstadt steht ein riesiger blauer Kasten. Einfach und pragmatisch aus Wellblech zusammengeschweißt. Und doch darf man sich von diesem unscheinbaren Äußeren nicht täuschen lassen, denn dieser Kasten ist das Paradies. Pilgerort und Wallfahrtsstätte für Hunderttausende. Dieser Ort entscheidet über Leben - und Wohnen.

Mehr als die Hälfte unserer Zeit verbringen wir in unseren eigenen vier Wänden. Wenn wir hier nicht glücklich sind, dann haben wir schon die Hälfte unseres Lebens sinnlos vergeudet.
Wer kann sich da der Botschaft verweigern, die in beinahe biblischer Auflage aber mit vielen bunten Bildern unter die Leute gebracht wird: „Jeden Tag leben, wie Du willst. In einem Zuhause, dass Du liebst. Umgeben von schönen Dingen, die all das widerspiegeln, was Dir wichtig ist.“

Bereits im Wohnparadies sind ganze Lebensentwürfe aufgereiht. Der Einstieg wird einem leicht gemacht. Und alles so persönlich. Jedes Möbelstück hat einen eigenen Namen. Sogleich entdecke ich ein komplettes Wohnzimmer für nicht mal 180 Euro. Für eine 3-Raum-Wohnung ist das schon ein Drittel von einem halben Leben.

Ich aber brauche ein ganzes halbes Leben und dafür brauche einen dieser großen Schiebwagen. Den muss ich mühsam die Treppe hochziehen, weil ich keine Rampe finde und er nicht in den Behindertenfahrstuhl passt. Ich belade ihn mit Schränken, Sofas, Lampen und Tischen, die ich wahllos aus den einzelnen Miniidyllen zusammen suche. Egal, mein eigener Stil wird meine Hand schon sicher führen, denn schließlich bin ich auf der Suche nach kreativer Wohnerfahrung. „Ob geblümt, gestreift oder uni. Jede Serie ist so aufeinander abgestimmt, dass Du alle Elemente nach Herzenslust mischen kannst.“

Eine Frau spricht mich an. Natürlich ist sie wunderschön. Natürlich ist sie blond. Und natürlich heißt sie Anna, genau wie die freundliche Helferin auf der Internetseite, die auch Anna heißt und auch wunderschön und blond ist. Denn das Paradies hat deutliche schwedische Einschläge. Vielleicht ist es ja auch gar nicht das Paradies, vielleicht ist es ja doch nur Walhalla.
Anna sagt: „Hej, diese Produkte sind alles Ausstellungsstücke.“ Ja wunderbar, dann wird ja alles noch billiger. Und als ich Anna ansehe, muss ich plötzlich an Schlafzimmer denken. Schlafzimmer gibt es gleich eine Abteilung weiter im Schlafparadies. Eine eigene Abteilung, wie geordnet doch das Leben sein kann. Anna darf leider nicht mit ins Schlafzimmer kommen, sie muss im Wohnzimmer bleiben.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer verlaufe ich mich. Plötzlich bin ich in der Küchenabteilung. Da wollte ich gar nicht hin. Nach einer Dreiviertelstunde finde ich endlich wieder raus und irre weiter orientierungslos umher. Mein ganzes Leben zieht an mir vorbei. Kinderzimmer, Jugendzimmer, Küche, Wohnzimmer und endlich auch das Schlafzimmer. Bestimmt gibt es auch eine Sargabteilung, denn schließlich gibt es eine Abteilung für jeden Lebensbereich. Welche lustigen Namen sie wohl den Särgen gegeben haben? EXITUS der preiswerte Fichtensarg, MORBID der elegante Buchensarg für Kenner oder LILLADÖD der niedliche Kindersarg? Hier wird doch nichts dem Zufall überlassen, das Leben geplant von der Wiege bis zur Bahre.

Doch ist das wirklich mein Leben? Ich drehe endlose Runden zwischen den sich immer wiederholenden Möbelstücken. Sehe die immer gleichen bemüht jugendlichen Menschen, die sich in Gruppen um die immer gleichen Exponate sammeln als wären sie auf dem Möbelstrich. Das also ist die IKEA-Family. Eine hörige Anhängerschaft von Geschmacksnazis, die Wohnen offensichtlich als Gleichschaltung begreifen. Die ihre Erkennungszeichen nicht an der Kleidung, sondern in den eigenen vier Wänden zur Schau tragen.

Desillusioniert schleppe ich mich zum Ausgang. Der Weg führt durch ein riesiges Möbelinternierungslager, in dem uniforme durchnummerierte Möbelpakete bereits zum Abtransport bereit stehen. Auf dem Parkplatz noch lese ich ein Plakat „Sei wie du bist. Lebe wie du willst.“ Erst jetzt fällt mir auf, dass das Wort „du“ ja mittlerweile klein geschrieben wird.

Und das Paradies ist nicht das Paradies, nicht mal Walhalla, sondern nur ein einfaches schwedisches Möbelhaus.



Eine Version dieses Textes ist erschienen in*:
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