Ein Besuch beim Zahnarzt, der komplett außer Kontrolle gerät und in einem Massaker endet.

Unter Schmerzen


Ich habe Respekt vor Ärzten, denn sie wissen genau, wie man Schmerzen verursacht. Und das sogar legal und bezahlt. Mein erster und letzter Arztbesuch endete mit einem traumatisierten Dreijährigen und einem Zahnarzt, der mit seiner rechten Hand nur noch ein Bier und einen Kurzen bestellen kann. Als ich mit 18 wieder aus der Psychiatrie entlassen wurde, hatte man mir die dummen Gedanken im Kopf herausoperiert. Nur das Schmerzzentrum hatte man dabei rein zufällig übersehen. Und nun habe ich Zahnschmerzen.

Bevor ich die Zahnarztpraxis betrete, nehme ich noch rasch ein paar Pillen gegen die Angst. Es sind die gleichen, die das US-Militär für seine Spezialkräfte verwendet. Die Zahnarzthelferin schenkt mir ein makelloses Zahnweißlächeln und fragt mich nach der Krankenkassenkarte. Wie verdammt durchtrieben von ihr, denn die Krankenkassenkarte hatte ich mir für den Notfall auf den Rücken geklebt. Sie nimmt die Karte sehr vorsichtig mit zwei Fingern entgegen und schneidet sich darum nicht an den rasiermesserscharfen Kanten. Stattdessen verlangt sie die Praxisgebühr für das ganze Quartal. Ich frage nach einer Einzelkarte. Die gibt es aber nicht und das Quartels-Abo ist auch nur noch für drei Tage gültig.

Das könnte eng werden, denn das Wartezimmer ist voll mit alten Leuten. Dabei könnten die ihre Zähne auch problemlos per Post einschicken. Es dauert vier Stunden bis ich endlich an die Reihe komme und so langsam spüre ich wie die Pillen meine Sinne schärfen. Ich rieche Angst und Schmerz - und den Alkoholdunst, der im Praxiszimmer hängt wie in einer billigen Kneipe. Desinfektion halte ich da für eine Schutzbehauptung. Aber mir ist es lieber, wenn der Arzt vorher ordentlich einen getankt hat, dann zittern seine Hände wenigstens nicht so. Er setzt sich neben mich und zieht ein Tischchen heran, auf dem mehr Besteck liegt als beim Nobelitaliener.

Ich muss den Mund weit aufmachen und der Arzt schaut lange hinein. „Plaque“, sagt er dann und macht eine dramaturgische Pause. „Plaque ist ihr geringstes Problem. Sie haben Karies an allen Zähnen und das Zahnfleisch ist chronisch entzündet. Paradontoseprophylaxe ist offensichtlich ein Fremdwort für Sie.“ - „Paradontoseprophylaxe IST ein Fremdwort.“, entgegne ich. - Doch da hat sich der Arzt schon der Schwester zugewendet: „Ich fürchte, da ist eine Wurzelbehandlung fällig.“ Ich finde das eine recht hölzerne Umschreibung für eine erotische Massage, aber ich sage: „Klar, warum nicht.“

Jetzt wird mir auch klar, wieso das Wartezimmer so voll war. Doch man merkt, dass er sonst alte Leute behandelt, denn der Arzt zieht sogleich eine Spritze auf. „Ist nicht nötig.“, sage ich, “Ich bin noch fit genug, ich brauche keine Spritze“. - „Na gut, dann müssen sie eben die Zähne zusammenbeißen“, sagt der Arzt und fängt an, den Bohrer laufen zu lassen. „Moment, da liegt ein Mißverständnis...“, doch da spüre ich schon einen stechenden Schmerz und heule wie ein Schloßhund. „Sehen Sie, tut doch gar nicht weh.“, sagt der Arzt.

Ich brauche jetzt wohl doch Hilfe und fische mein iPhone aus der Tasche. „Wähle Notruf“, schreie ich so laut ich kann, um den schrillen Bohrer zu übertönen. - „Sie hören gerade: 'mitten ins Gesicht' von Bushido. Wollen Sie dieses Lied jetzt kaufen?“ - „Nein“ schreie ich und ramme das iPhone mit aller Kraft auf die Hand, die versucht, mich zurück in den Stuhl zu drücken. „Download abgeschlossen“, sagt das iPhone, bevor es zusammen mit einigen Fingern zerbricht. Nun schreit auch die Schwester, denn es waren ihre Finger und es klingt tatsächlich ein bißchen wie Bushido.

Ich springe auf, wobei sich der Bohrer bis zum Anschlag in den oberen Schneidezahn bohrt und dann abbricht. Das Blut spritzt mir aus dem Mund und der Schwester spritzt das Blut aus ihrer Hand und ich bemerke, wie gut es zu ihrem Nagellack passt. Ängstlich schlägt sie ein blutrotes Kreuz auf ihrer Brust. Doch ein Kreuz hilft nicht gegen Vampire. Ich schlage meine Zähne in ihren breiten Hals und versuche, ihren Kopf vom Körper zu trennen.

„Geronimo“, schreit der Arzt und versucht, die rettende Tür zu erreichen. Irgendwie hat er den Sinn eines Schlachtrufs nicht verstanden. Ich schnappe mir eine herumliegende Zahnprothese. Mit ihr in der Hand kann ich endlich in Ruhe mit ihm sprechen. Handpuppenkrokodile haben eine beruhigende Wirkung. „Das hier“, verkünde ich, „ist Schnappi. Und Schnappi steht gerade total auf Wurzelbehandlung.“

Ob ich Killerspiele spielen würde, werde ich hinterher von der Polizei gefragt. Ob sie die Filmrechte haben können, werde ich von „Columbine Pictures“ gefragt. Warum ich das getan habe, fragt mich mein Psychiater. „Weil ich Zahnschmerzen habe“, sage ich und schlürfe sein Gehirn aus seinem gespaltenem Schädel. Das Schmerzzentrum zuletzt.



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