Eine satirische Abrechnung mit den Bezahlschranken im Internet.

Paywall


Neulich war ich mit meiner Oma im Zeitschriftenladen. Eigentlich ist es gar nicht meine Oma, aber letztlich macht das ja auch keinen Unterschied und sie passt wirklich gut zu meiner Wohnungseinrichtung.

Ich blättere seit zwanzig Minuten durch eines dieser Landleben-Lifestyle-Magazine für Großstädter.
"Wollen Sie die Zeitung jetzt lesen oder kaufen?", fragt die Verkäuferin genervt.
Ich gucke zu ihr hoch.
"Weder noch", denke ich.

"Lesen", sage ich und widme mich wieder den Art-Deco-Einbau-Bauernschränken.
"Das geht so aber nicht", sagt die Verkäuferin.
"Nicht?"
"Nein, Sie müssen die Zeitung erst kaufen und dann können Sie sie lesen."
"Das ist Unsinn.", sage ich, "Wie Sie sehen, lese ich sie doch gerade, ohne sie gekauft zu haben. Woher soll ich sonst vorher wissen, ob ich sie überhaupt kaufen will?"
"Na, Sie haben jetzt schon die halbe Zeitung gelesen. So langsam müssen Sie das doch mal wissen."
"Ich weiß doch nicht, ob in der anderen Hälfte vielleicht noch etwas Spannendes kommt."
"Da müssen Sie sich jetzt aber entscheiden."
"Ich soll versuchen, es zu erraten?"
"Nennen Sie es, wie sie wollen, aber entscheiden Sie sich endlich."

"Ich glaube, nein.", sage ich und lese weiter.
"Nein?"
"Nein - Sieht nicht so aus, als würde in dieser Zeitung etwas stehen, was mich interessieren könnte."
"Warum lesen Sie sie dann?"
"Ich prokrastiniere."
Sie beugt sich unsicher näher, um das Cover meiner Zeitschrift genauer zu erkennen und wirft dann einen verstohlenen Blick zum Regal mit den Männermagazinen.
"Sie machen was?"
"Ich lese diese Zeitschrift, weil ich gerade nichts Besseres vorhabe.", erkläre ich es in einer für sie verständlichen Sprache.

"Dann müssen sie die Zeitung aber jetzt auch bezahlen.", sagt sie, um wieder auf ihr Geschäftsanliegen zurück zu kommen.
"Habe ich doch.", sage ich und mache eine ausholende Bewegung über die ganzen Werbeplakate für die unterschiedlichsten Spielarten von Lotto und diverse Zeitschriftenneuheiten. "Ich habe mir Ihre Werbung angeguckt, sogar die im Heft, zwischen der sich die Artikel verstecken, die wiederum selbst auch reine Werbetexte sind. Sehen Sie? Hier stehen sogar die Preise und Herstellernamen unter jedem Foto im Artikel. Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne in Ruhe meine Zeitung lesen."
"Das reicht aber nicht. Nur, weil Sie sich die Werbung im Heft angucken..."
"… und die in Ihrem Laden."
"Und die in meinem Laden, meinetwegen. Aber Sie müssen die Zeitung trotzdem bezahlen. Das kostet doch schließlich alles Geld, so eine Zeitung."
"Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen meine Email-Adresse geben, dann können Sie mir noch mehr Werbung schicken.", biete ich ihr an.

"Jetzt ist aber langsam gut.", höre ich Omas Stimme hinter einem Regal, "Wenn ihr quatschen wollt, dann könnt ihr ja auch nach draußen gehen."
"Was machen Sie denn da?", fragt die Verkäuferin, die meine Oma erst jetzt bemerkt.
"Kreuzworträtsel", schnarzt Oma zurück, "Zumindest soweit das bei diesem Gesabbel möglich ist."
Die Verkäuferin stürmt zu meiner Oma herüber und starrt entgeistert auf das Rätselheft: "Lassen Sie das. Sie schreiben ja das ganze Heft voll."
"Dazu ist es ja auch da.", sagt Oma.
"Das müssen Sie jetzt aber wirklich bezahlen. Das müssen Sie bezahlen."
"Ist ja gut, in Ihrem Alter sollten Sie sich aber nicht mehr so aufregen.", sagt Oma und reißt die Seiten mit zwei fertigen und dem halbgelösten Rätsel aus dem Heft heraus und gibt der Frau sechs Cent.
"Das Heft kostet aber zwei Euro."
"Ja, für 100 Rätsel, aber ich habe ja nur drei davon gelöst bekommen, bis sie mich gestört haben."
"Und was soll ich dann jetzt mit dem angefangenen Rätselheft?"
"Sie haben ja wohl auch noch andere Kunden. Sollten Sie zumindest, wenn Sie nicht schon alle vergrault haben." fügt sie nach einem Blick in den leeren Laden hinzu.
"Sie müssen aber das ganze Heft..."
"Vielleicht beim nächsten Mal.", sagt Oma.
      "Komm Junge, wir gehen. Wir wollen ja auch noch in den Musikladen."



Eine Version dieses Textes ist erschienen in*:
- Torsten Wolff: "Alter schützt vor gar nichts!" beim Blaulicht-Verlag
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