Oma: Der wahre Nachwuchs findet sich im Abseits auf den Fussballplätzen des ganzen Landes

Nachwuchsförderung


Neulich war ich mit meiner Oma auf dem Fussballplatz. Eigentlich ist es gar nicht meine Oma, aber letztlich macht das ja auch keinen Unterschied und immerhin spielt sie nicht mehr in der F-Jugend.

Oma und ich gehen gerne zum Fussballplatz, um die Spiele der Jugendmannschaften anzuschauen. Nicht wegen der Kinder oder dem Fussball, sondern wegen der Eltern, die hier der vergeblichen Hoffnung nachhängen, dass ihre Kinder es einmal weiter bringen könnten als sie selbst. Denn am Wochenende wird der Fussballplatz zur Hochbegabten-Akademie für Eltern, deren Kinder intellektuell eher in der B-Mannschaft spielen.

„Einer nur.“, ruft der Trainer und winkt energisch mit seiner Bierflasche, als fünf hochbegabte Nachwuchskicker gleichzeitig zum Ball rennen. „Ach, das ist doch alles Scheiße.“, ruft er gleich darauf, als folgerichtig das nächste Gegentor fällt, und nimmt einen tiefen Schluck aus der Pulle. Er ist der einzige Vernünftige in dieser Kaderschmiede des Prekariats.

„Los Paul, wenn der schneller ist als Du, dann musst Du ihm voll in die Eier hauen.“, ruft der Vater neben mir. „Das ist halt Männersport und kein Mädchenballet“, dreht er sich zu uns um, denn Paul steht am Mittelkreis und hört ihn nicht.
„Sport?“, frage ich. „Der steht doch die meiste Zeit nur rum.“
„Der muss sich ja auch nicht immer bewegen. Der liest halt das Spiel.“
„Wenn der Junge irgendetwas lesen könnte, wäre er vermutlich nicht hier“, sage ich.
„Passen Sie mal auf, dass ich Ihnen nicht gleich mal eine ...“
„Da!“, rufe ich aufgeregt und zeige auf das Spielfeld. „Der Paul, der macht gleich ein Tor.“
Der Vater dreht sich eilig um: „Was? Wo denn?“
„War ein Scherz.“, sage ich.
Der Vater findet ihn nicht lustig, aber immerhin bricht es seinen Widerstand.

„Die sollten endlich mal den Sebastian einwechseln.“, mischt sich eine andere Mutter ein.
„Oh nein, bitte nicht.“, winke ich ab.
„Wie bitte?“
„Unser Team spielt doch jetzt schon schlecht genug, da muss ihr Kind nicht auch noch sein.“
„Der Sebastian ist ein begnadeter Fussballer. Man muss ihm einfach nur mal eine Chance geben.“
„Der Sebastian würde einen großen Schritt zu einem begnadeten Fussballer machen, wenn er lernen würde, seine Schuhe richtig herum anzuziehen.“, sage ich mit einem kurzen Blick in Richtung Ersatzbank.
„Der entwickelt sich eben noch und der Junge hat doch jetzt schon ein unglaubliches Potential.“
„Also so wie die Grillwurst hier auf meinem Teller? Die ist noch fast roh und außerdem kalt. Die hat auch Potential, aber deshalb schmeckt sie trotzdem nicht besser.“
„Aber der Junge hat doch so viel Talent. Der braucht nur etwas Zeit.“
„Talent ist Blödsinn. Wichtig ist allein auf dem Platz. Entweder kann man etwas oder nicht. Für Talent kann sich keiner was kaufen.“

„Lass mal, Junge. Die Dame hat völlig recht.“, wirft Oma ein. „Es ist doch wichtig, die Talente eines Kindes frühzeitig zu fördern.“
„Stimmt genau.“, pflichtet die Frau bei.
„Früher hat man da viel mehr drauf geachtet.“, sagt Oma. „Da wurden die Kinder schon mit Zwölf als Flakhelfer und zum Minenräumen eingesetzt.“
„Da haben Sie recht. Schön, dass Sie das sagen. Heutzutage bekommen die Kinder ja einfach viel zu wenig Chancen.“
„Anderswo hat man einen viel besseren Blick für Talente.“, erklärt Oma, „In Bangladesh zum Beispiel sind die Kinder allesamt begnadete Näher. Meine Güte, was die Kinder dort nähen können und was für ein Talent die haben. Und die haben da ja auch gleich ganz andere Chancen: Die haben sogar die Trikots und die Schuhe von unseren Kindern genäht. Und da sagt mein Junge noch, dass sich von Talent keiner etwas kaufen kann.“
„Was hat denn das mit meinem Sohn zu tun?“, fragt die Frau.
„Gar nichts. Wir reden ja schließlich über Talent. Ich wollte nur erwähnen, wie unglaublich viel Talent die Kinder hier mit sich herumtragen.“, sagt Oma. „Ich wünsche Ihnen aber trotzdem viel Erfolg mit Ihrem Sohn. Und wenn das mit dem Fussball nichts wird, kann er hier ja vielleicht später die Würstchen grillen. Die könnten nämlich wirklich jemanden mit etwas Talent gebrauchen.
  Komm Junge, wir gehen. Wir wollten ja auch noch zur Jugendmusikschule.“



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